Netiquette 4.0: Warum wir neue Regeln für das Miteinander in der mobilen Welt brauchen
Ein Beispiel bei Facebook
Wie schnell der Ton im Netz verrohen kann, bewies kürzlich ein gepostetes Bild auf Facebook. Das Bild zeigte eine Tafel mit folgendem Text: "Immer, wenn ein Kind vor einem Smartphone sitzt, stirbt auf einem Baum ein Abenteuer". Sicher, zu dem Thema dürfen Menschen ja gerne geteilter Meinung sein. Aber unter den zahlreichen Kommentaren standen plötzlich unfassbare Sätze wie
- "Erzähl mir nichts von Kindererziehung, ich ziehe gerade Nummer 5 und 6 groß, und du?"
- "Du als Erwachsener solltest besser keine Kinder haben."
- "Ich hoffe bei Ihnen, dass Ihre Gene mit Ihnen aussterben."
Das wirklich Erschreckende an diesem Beispiel ist, dass diese verbalen Entgleisungen nicht etwa von politischen Wirrköpfen stammen, sondern von ganz gewöhnlichen Müttern und Vätern, die abends ihren Kindern mit sanfter Stimme eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen und morgens liebevoll ein Schulbrot schmieren. Das muss kein Widerspruch sein.
Warum ist der Ton im Netz so rau?
Alle Menschen leiden mal mehr und mal weniger an schlechten Gefühlen. Frustration, Wut oder Machtlosigkeit zu empfinden ist völlig normal. Gegenwärtig betrachten jedoch immer mehr Leute das Netz als Mittel, um so richtig Dampf abzulassen. Offensichtlich ist es einfacher, jemanden auf Facebook zu beleidigen, als ihm dieselben Worte persönlich ins Gesicht zu sagen.
Im Internet fühlen sich viele irgendwie sicher, anonym und unangreifbar – und das, obwohl die meisten ihren Unmut heutzutage sogar unter ihrem echten Namen mitteilen. Als ob im Netz weder Regeln, noch sonstige Moralvorstellungen gelten würden. Gab es dafür in der Vergangenheit nicht die so genannte Netiquette?
Das stimmt, aber sie ist in diesen technisch rasanten Zeiten ein wenig veraltet. Trotzdem war die Netiquette ursprünglich einmal eine sehr gute Idee gewesen. Ähnlich wie die sogenannte Etikette die Umgangsformen für das Miteinander in der Gesellschaft festgelegt hatte, bildete die Netiquette lange Zeit einen verlässlichen Leitfaden für eine gute und höfliche Kommunikation im damals blutjungen Medium Internet.
Empfehlungen wie "Schreibe nichts in Großbuchstaben, denn das gilt als Anschreien." oder "Fasse dich kurz!" mögen ja immer noch ihre Gültigkeit haben, aber sie wirken heute etwas angestaubt und aus der Zeit gefallen. Kein Wunder, denn sie entstanden in den ersten Jahren des Internets und bezogen sich dabei meist auf E-Mails, Chats und Foren. In Zeiten von von Smartphones, WhatsApp, Facebook und dauerhaftem Online-Zustand müssen zeitgemäße Regeln her.
Wir brauchen dringend neue Kommunikations-Regeln
Der Nutzen der technischen Errungenschaften mag unbestreitbar sein. Jedoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass dabei oftmals Höflichkeit oder Respekt auf der Strecke bleiben: Eingehende Telefonate unterbrechen echte Gespräche mit anwesenden Personen; auf WhatsApp wird munter geschimpft, gelästert und gemobbt; und in Sozialen Netzwerken wie Facebook gibt es derart viel Hetze und herabwürdigende Falschmeldungen, dass sich sogar der Staat genötigt sah, mit dem Netzwerkdurchsetzungs-Gesetz rechtlich etwas entgegenzusetzen.
Doch so legitim und notwendig es ist, die Anbieter Sozialer Netzwerke mit in die Verantwortung zu nehmen, so gering ist doch leider die Wirkung. Denn beim Betroffenen führt die Sperrung seines Accounts nicht automatisch zu einem neuen Erkenntnisgewinn oder Umdenken. Genau darum ist unsere Gesellschaft auf das Setzen von Grenzen in Form einer freiwilligen Vereinbarung angewiesen.
Die Netiquette ist nie fertig
Die Entstehung einer neuen Netiquette ist als unentwegter Entstehungsprozess zu verstehen, der keinen Stillstand kennt. Er muss ständig überprüft, aktualisiert und ergänzt werden. Diese Regeln helfen uns allen, einen würdigen Umgang miteinander im Netz und in der Realität zu führen. Dazu bildet die Netiquette eine wirklich gute Grundhaltung.
Bedauerlicherweise beziehen sich jedoch diese Benimm-Empfehlungen immer nur auf uns Nutzer. Das ist eindeutig zu wenig. Wünschenswert und dringend notwendig wäre auch ein Anstandskodex für Anbieter technischer Geräte und digitaler Angebote im Netz. Solange es zu deren unlauteren Geschäftsmodell gehört, Kunden auszuspionieren, auszuwerten und zu manipulieren, sind sie meilenweit von guten Sitten entfernt. Da reicht es beileibe nicht aus, sich wie Google das Motto "Tu nichts Böses" um den Hals zu hängen.