Kinder, Eltern und das Smartphone – ein Interview mit Thomas Feibel

Wann sind Kinder alt genug für ein Smartphone? Was nützen Regeln und Verbote? Gibt es so etwas wie eine Smartphone-Sucht? Und: Können Eltern beim Thema "Smartphone und Internet" überhaupt noch Vorbilder sein? 

Michael Schnell, Redaktionsleiter beim Internet-ABC, hat sich mit Thomas Feibel unterhalten. Thomas Feibel ist Medienexperte, Autor beim Internet-ABC und von Kinder- und Jugendbüchern zum Thema "Aufwachsen in der digitalen Welt": Vor kurzem erschien sein Buch "Jetzt pack doch mal das Handy weg!" (siehe unten).


Michael Schnell: Wenn ich mit Bahn und Bus unterwegs bin, zähle ich gern, wie viele Leute permanent auf ihr Handy starren. Gestern hatten von zwölf Personen sieben ein Smartphone in der Hand. Und das waren keine Jugendlichen. Gleichzeitig hört man von Erwachsenen immer wieder den Vorwurf, dass die Jüngeren offenbar ohne Smartphone nicht mehr auskommen könnten. Wie beurteilen Sie das?

Thomas Feibel: Was Sie hier beschreiben, ist kein Erziehungsproblem, sondern ein Gesellschaftsproblem. Das Smartphone gibt es erst seit zehn Jahren und wir alle haben im Umgang mit diesem an sich tollen Gerät noch nicht die Balance gefunden, vernünftig damit umzugehen. Zum ersten Mal in der Geschichte moderner Medien verlangen Eltern dennoch von ihren Kindern, selbstregulativ mit dem Gerät umzugehen – und können es selbst nicht. Beim Fernsehen haben wir Erwachsene gelernt zu widerstehen. Obwohl da immer etwas läuft, schalten wir den Fernseher erst dann ein, wenn wir Zeit haben. Beim Smartphone ist uns diese Distanz noch nicht gelungen.

Wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der nicht nur die Eltern, sondern sogar fremde Erwachsene schlechte Vorbilder sind, dann macht das die Smartphone-Erziehung besonders schwierig.

Und wir dürfen eines nicht vergessen: Es gibt zwar viele Eltern, die von ihren Kindern genervt sind, weil die ständig auf ihr Handy starren. Aber es gibt auch viele Kinder, die von ihren Eltern genervt sind, weil diese ständig auf ihr Handy starren.

"Augenmaß statt sich aufzuregen!"

... oder: Machen Kinder am Smartphone nur unwichtiges Zeugs?

Michael Schnell: Ja, das stimmt. Hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass Eltern durchaus beim Essen auf ihr Handy schauen, dies bei den Kindern aber nicht gerne sehen. Warum denken Eltern eigentlich immer, dass die eigene Nutzung wichtiger ist als die der Kinder? Warum ist die Mail meiner Chefin wichtiger als eine WhatsApp-Nachricht, die auf dem Handy meiner Tochter ankommt?

Thomas Feibel: Wenn Erwachsene auf ihr Handy schauen, dann buchen sie vielleicht eine Fahrkarte, suchen auf der Straße in einer fremden Stadt nach dem richtigen Weg oder schreiben eine Nachricht, weil sie sich gerade zum Termin verspäten. Trotzdem sieht es für andere immer so aus, als ob die Person nicht den Blick von seinem Gerät wenden kann. Idioten sind eben immer die anderen.

So ähnlich ist es auch, wenn Kinder auf ihr Handy schauen und sie sofort bei uns unter Verdacht geraten, irgendeinen Unsinn zu machen. Aber vielleicht heult sich gerade die beste Freundin wegen eines Konflikts aus oder die Gruppe spricht sich ab, was sie jemandem zum Geburtstag schenken möchte. Darum ist es manchmal  bei der Erziehung wichtiger, mehr mit Verständnis als mit strikten Zeitkontingenten zu arbeiten.

Natürlich ist das kein Freibrief zur endlosen Nutzung, wenn zum Beispiel gespielt wird, aber natürlich können wir ganz anders reagieren, wenn wir wissen, dass gerade Absprachen wegen der Hausaufgaben getroffen werden. Augenmaß statt sich aufzuregen.

"Kneifen gilt nicht!"

... oder: Sind die Eltern überfordert, vielleicht sogar zurecht überfordert?

Michael Schnell: Augenmaß statt sich aufzuregen – das ist manchmal ja leicht gesagt. Man regt sich ja oft deshalb auch auf, weil man selbst noch unsicher ist. Sie haben vorhin schon gesagt, dass die Eltern beim Thema Smartphone selbst noch nicht so weit sind, angemessen damit umzugehen.

Aber: Verlangen wir manchmal nicht tatsächlich auch zu viel von Eltern? Sie sollen sich mit der Technik befassen, sie sollen die Apps der Kinder und Jugendlichen verstehen, sie sollen sich interessieren, ohne zu stark zu kontrollieren – und wenn sie dann etwas auch für sich entdeckt haben und es verstehen (zum Beispiel Facebook), sind die Jüngeren schon längst wieder mit anderen Apps beschäftigt: Instagram oder Snapchat, musical.ly oder live.ly. 

Können Eltern da überhaupt noch mithalten?

Thomas Feibel: Eigentlich ging es allen Eltern-Generationen schon immer so. Früher zählten Rockmusik, Drogen, Sekten oder später auch Computerspiele zu den großen Herausforderungen im Erziehungsalltag, die Eltern verunsicherten und überforderten. Sie haben sich trotzdem damit auseinandergesetzt: Weil sie ihre Kinder lieben, aber auch weil sie sie schützen wollen.

Natürlich ist das heute durch den raschen Wandel in der Internetwelt anstrengender geworden, aber kneifen gilt nicht. Und das wollen heutige Eltern auch gar nicht. Im Vorfeld zu meinem Buch habe ich viele Eltern gefragt, was sie sich davon erwarten. Überraschenderweise kam übereinstimmend der Wunsch auf, die Problematik auch technisch besser zu verstehen. Darum gibt es ein Kapitel, in dem Whatsapp, Snapchat, Musical.ly nicht nur technisch erklärt, sondern auch ihre Bindungstechniken erläutert werden. Wer erstmal versteht, wie und warum Kinder von diesen Angeboten in den Bann gezogen werden, kann anders erziehen. Mit mehr Verständnis und Güte zum Beispiel.

"Wenn Eltern wie Moses mit den zehn Geboten vom Berg steigen …"

... oder: Was nutzen eigentlich Verbote?

Michael Schnell: Darf es auch mal ein schlichtes Verbot sein? Oder vielleicht besser: Wann sind klare Regeln gefragt, mitsamt Konsequenzen bei Nicht-Einhaltung derselben?

Thomas Feibel: Eigentlich bin ich grundsätzlich gegen Verbote. Wir kennen das ja aus unserer eigenen Fernsehkindheit: Fernsehverbot und Hausarrest haben auch bei uns noch nie zu tieferen Einsichten geführt, sondern sind eine reine Machtdemonstration der Eltern, die Kindern ihre Ohnmacht vorführen soll. Solche Verbote sind in meinen Augen eine pädagogische Hilflosigkeit.

Etwas anderes ist es, wenn zusammen mit den Kindern Regeln erstellt werden und der stundenweise Entzug des Geräts bereits Teil der Abmachung war, sobald sich nicht an die Abmachung gehalten wird. Regeln sind beim Thema Smartphone und anderen Medien unerlässlich. Wichtig ist, dass diese Regeln gemeinsam mit den Kindern auf Augenhöhe entwickelt werden – möglichst, bevor sie ein Gerät bekommen. Sie sollen dann auch Vorschläge machen, was bei Nichteinhaltung der Regeln für Sanktionen greifen sollen.

Wenn wir Eltern nicht wie Moses mit den zehn Geboten vom Berg steigen, sondern die Kinder einbinden, hat die Anwendung Konsequenzen eine ganz andere Wirkung. Es geht natürlich trotzdem schief, weil es schief gehen muss, auch durchaus mal schief gehen darf – weil es eben Kinder sind. 

"Wir müssen als Erwachsene für Kinder Smartphone-freie Zeitkontingente schaffen."

... oder: Wie lange vor dem Bildschirm?

Michael Schnell: Gehören zu den Regeln auch feste Zeitkontingente, egal ob Tages- oder Wochenkontingente? Sie haben vorhin gesagt, Verständnis sei besser als strikte Zeitvorgaben – aber ein 11-Jähriger sollte nicht zwei bis drei Stunden am Tag vor einem Bildschirm sitzen, oder?

Thomas Feibel: Erstens müssen wir uns zunächst klar machen, dass eine Kontrolle mit mobilen Geräten im Gegensatz zu einem stationären PC schwierig bis unmöglich geworden ist. Natürlich können wir Kinder morgens bitten, auf dem Schulweg mit der Straßenbahn kein Spiel zu spielen. Der Erfolg darf bezweifelt werden. Sobald ein Kind ein Gerät mit so viel Möglichkeiten als täglichen Begleiter bekommt, kann es seinem Reiz nicht widerstehen. Uns wäre es als Kinder nicht anders ergangen, und unsere Eltern hätte sich die Haare gerauft.

Trotzdem sind zweitens Zeitkontingente wichtig und wenn ein Elfjähriger drei Stunden vor einem Bildschirm sitzt, ist das schlecht. Nur müssen wir jetzt andersrum herangehen. Vor dem Smartphone-Zeitalter haben wir von Bildschirmzeiten gesprochen, die Computer und Fernsehen betrafen.

Jetzt müssen wir als Erwachsene für Kinder Smartphone-freie Zeitkontingente schaffen: Zum Beispiel beim Nachhausekommen das Gerät in ein Körbchen am Eingang ablegen, bis alle Aufgaben und Pflichten erledigt sind. Abends ab einer gewissen Zeit das Smartphone raus aus dem Zimmer bringen. Das klappt ganz gut, solange die Kinder klein sind.

Und am Wochenende müssen wir mit ihnen etwas unternehmen, bei denen ein Smartphone stört. Das würde uns übrigens allen gut tun und den Familiengeist stärken.  

"… auch die Reife meines Kindes in den Entscheidungsprozess miteinbeziehen."

... oder: Mit wie vielen Jahren ein Smartphone?

Michael Schnell: Die Smartphone-Nutzung ist schlecht zu kontrollieren, das Gerät ist ein "Alleskönner" – tja, ab wann sollte denn ein Kind ein Smartphone bekommen? Wann kann man ihm zumuten, die Gefahren zu beherrschen, die damit einhergehen?

Thomas Feibel: In der Regel empfehlen Experten und Psychologen ja den Übergang zur nächsten Schule, also wenn die Kinder 10 bis 11 Jahre alt sind. In diesem Alter ist auch der Druck auf die Eltern durch die technische Ausstattung der Mitschüler enorm hoch. Trotzdem würde ich mich nicht nur an den Empfehlungen der Fachleute halten, sondern auch die Reife meines Kindes in den Entscheidungsprozess miteinbeziehen.

Die Realität sieht allerdings momentan anders aus. Bereits Grundschüler bekommen in der 2. oder 3. Klasse ein eigenes Gerät, meistens das alte der Eltern. Einem Zehnjährigen gegenüber können wir zum Thema Gefahren deutlicher werden als einem Sieben- oder Achtjährigen. Die Überforderung ist vorprogrammiert, außerdem haben finden gerade junge Kinder gar kein Ende.

"Es braucht keinen offiziellen Stempel 'Sucht', um Kindern Grenzen zu setzen."

... oder: Antworten zum Thema Sucht! 

Michael Schnell: Noch einmal zum Thema "Zeit vor dem Bildschirm". Als ich ca. 12 Jahre alt war, galt mein Interesse dem Fußball: Ich bin fast jeden Tag raus mit dem Ball zum Fußballspielen, habe mir im Fernsehen jedes Spiel angeschaut (sofern es nicht zu spät am Abend war), am Wochenende Sportschau in der ARD am Samstag und Sport-Reportage im ZDF am Sonntag geschaut, bin bei Heimspielen meines Vereins ins Stadion gegangen. Wenn ich dort mal nicht hin konnte, war ich nervös und dachte daran, wie das Spiel wohl ausgegangen ist, verfolgte bei Verwandtenbesuchen heimlich über mein kleines Radio den Spielverlauf. War ich fußballsüchtig? Sie wissen, worauf ich hinaus will – gehört ein bisschen exzessives Verhalten nicht zum Großwerden dazu?

Thomas Feibel: Wir alle haben als Kinder etwas exzessiv gemacht, was unsere Eltern mitunter beunruhigte. Manchmal wünscht man sich als Erwachsener diese besondere Form der Begeisterung und Leidenschaft zurück.

Doch sobald diese Begeisterung im Zusammenhang mit Medien wie Computerspiele oder Smartphone stattfindet, steht schnell der Begriff Sucht im Raum. Vielleicht zu schnell. Kein Wunder, denn selbst wenn der Begriff der Smartphone-Sucht umstritten ist, so fühlt es sich doch für manche Eltern wie Sucht an.

Wir dürfen die Suchtproblematik nicht sorglos herunterspielen, aber bitte auch nicht dramatisch überhöhen, sondern genau hinschauen und differenzieren. Für gewöhnlich trifft der Suchtbegriff zu, wenn sich die Person isoliert, nicht mehr am gemeinsamen Leben oder an den Mahlzeiten teilnimmt, nicht zur Schule geht, die Nacht zum Tage macht und bei Regulierungsversuchen extrem aggressiv reagiert.

Das dürfte auf die meisten Smartphonenutzer nicht zutreffen. Dennoch müssen wir handeln, wenn wir das Gefühl haben, dass die Nutzung unserer Kinder aus dem Ruder läuft. Es braucht keinen offiziellen Stempel "Sucht", um Kindern Grenzen zu setzen!

"Erst denken, dann schenken!"

oder: Ist das Kind reif genug?

Michael Schnell: Was würden Sie Eltern mit auf den Weg geben, die ihrem Kind ein Smartphone kaufen möchte?

Thomas Feibel: Generell rate ich zu "Erst denken, dann schenken!": Ist mein Kind reif genug für ein Smartphone? Gerade bei jungen Kindern halte ich ein normales Handy für die bessere Lösung. Sie können ja nachmittags das Tablet der Eltern noch nutzen.

In dem Moment, in dem Kinder ein eigenes Smartphone haben, sind sie permanent "on". Wollen wir das wirklich? Neben den vorhin angesprochenen Regeln rate ich, mit Kindern gemeinsam eine Vereinbarung zu treffen. Dazu gibt es ja gerade beim Internet ABC den mit Klicksafe entwickelten Mediennutzungsvertrag. Damit können gemeinsame Absprachen festgehalten werden, die für beide Seiten eine gut Orientierung bieten.

Wie schon oben erwähnt: Es wird trotzdem immer wieder etwas schief gehen. Wenn Mädchen und Jungen Fehler machen oder es mit der Nutzung übertreiben, dann geschieht das nur aus einem einzigen Grund: Weil sie Kinder sind.


Literaturtipp

Thomas Feibel: Jetzt pack doch mal das Handy weg! Wie wir unsere Kinder von der digitalen Sucht befreien. Berlin 2017, 9,99 EUR

"Die Handynutzung ist in unseren Familien zum Streitthema Nummer eins geworden", heißt es im Vorwort des Buches. Thomas Feibel möchte Eltern Orientierung bieten: Wie sie Vorbild sein können, wie und welche Regeln zielführend sein können, was es mit der "Sucht" auf sich hat, warum technisches Verständnis wichtig ist und wie sie ihre Kinder zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit dem Smartphone begleiten können.

Von dem etwas reißerischen Untertitel des Buches abgesehen (der im übrigen auch zu den Ausführungen innerhalb des Buches nicht so recht passt), gelingt es dem Autor, die Problematiken rund um das Smartphone mit zahlreichen Expertenstimmen, aber auch typischen Familiensituationen dem Leser pointiert und schlüssig nahezubringen. Er liefert interessante Denkanstöße zum Thema "Selbstregulation" und zeigt, wie wichtig hierbei das Gemeinsame einer Familie ist.